Das kleine Gemslein
Wir waren in Leukerbad, im Wallis, in der Schweiz. Leukerbad liegt ca 1 400
Meter über dem Meer und die Berge darum sind ungefähr 1 000 Meter höher.
Und in diesem Juli 2 000 fiel dort oben 1/2 Meter Schnee
Nun meine Geschichte:
Es war einmal ein kleines Gemslein. Es lebte mit seiner Mutter und einer
grossen Gemsenherde hoch oben im Gebirge in der Schweiz. Dort gab es gute
Kräutlein und Blättlein zu fressen. Die kleine Gemse spielte mit den
anderen Gems-Kitzen und war immer guter Dinge.
Da kam der kalte Juli 2000 und in den Bergen fiel Schnee. Der Wind blies
eisig scharf und das Futter wurde knapper. Unser Gemslein sah hinab ins
Tal, sah dort die grünen Wiesen und sagte laut:
"warum springen wir nicht da hinunter? dort gibt es doch schöne, grüne
Kräuter, und wir können uns sattfressen. Wenn ihr nicht mitkommt, geh ich
alleine ins Tal!"
Aber die Mutter rief:
"nein, nein, das darfst du nicht tun! Du musst immer bei der Herde bleiben!
Bleib hier! Bitte bleib bei uns!"
Das Gemslein hörte nicht, nicht auf seine Mama und nicht auf all die andern
Gemsen, die da riefen:
"bleib bei uns, bleib bei uns, sonst sehen wir dich nie wieder. Dort unten
ist es gefährlich für eine kleine Gemse!"
Die Gemsenmutter stand auf einem Felsvorsprung, sah ihrem Kitzlein nach und
wusste, dass es verloren war. So ein dummes Kind, läuft ganz allein so weit
von der Herde weg, so ein dummes Kind!
Die Mutter sah ihr Kleines lustig über Felsen, Steine, Wiesen springen,
immer tiefer ins Tal, immer tiefer und weiter fort von der Herde.
Das Kitzlein war vergnügt, fand duftendes Gras in Hülle und Fülle. Es gab
keinen Schnee, keinen scharfen Wind hier unten im Tal. Die kleine Gemse
frass sich satt und sprang munter immer weiter, immer weiter.
Aber da - plötzlich - hörte sie Schnauben und wildes Bellen, sie roch
Unheil und lief und lief und lief um ihr Leben.
Wir gingen an diesem Nachmittag mit unseren Hunden spazieren, bewunderten
die schöne Gegend, freuten uns der Ruhe und waren glücklich. Unsere Hunde
tollten vergnügt um uns herum.
Aber auf einmal stürmten alle drei Hunde los, den Bergen zu. Wir verstanden
zuerst gar nicht, was geschehen war. Doch dann sahen wir ein kleines,
braunes Tier am Fuss des Berges, das mit einer durchdringenden Stimme seine
Mutter um Hilfe rief, das um sein Leben rannte. Unsere Hunde jagten
hinterher. Die bellten und liefen, zwar nicht schneller, als das Gemslein,
aber sie bellten und bellten mit ihren tiefen Stimmen aus Leibeskräften.
Zuerst standen wir wie angewurzelt da und schauten dieser Hetzjagd entsetzt
zu. Dann riefen wir, schrieen wir nach unseren Hunden, die aber, obwohl sie
sonst sehr folgsam sind, nicht daran dachten zu gehorchen.
Das Gemslein hatte einen Bogen gemacht und kam nun direkt auf uns zu. Es
war schon ganz nahe, als es plötzlich torkelte, wankte und umfiel. Die
Hunde waren sofort bei ihm, schnupperten, schupsten das Tierchen mit ihren
Schnauzen und waren traurig, dass das lustige Spiel vorüber war. Sie
liessen sich - plumps - ins Gras fallen und hechelten mit offenem Maul, aus
dem eine dicke, rot-blaue Zunge hing.
Mein Mann bückte sich, sah das zitternde Tierlein, seine grossaufgerissenen
Augen. Er nahm das Kitzlein auf den Arm, es war gar nicht schwer und sagte
zu mir:
"ich glaube, ich habe vorhin vor einer kleinen Gastwirtschaft das Auto des
Wildhüters gesehen. Lass uns schnell dorthin gehen."
"Widlhüter" dachte ich. Ich fühlte mich so schuldig, meine Kniee zitterten.
"Wildhüter", was wird der für ein " Donnerwetter" machen, wenn er erfährt,
was geschehen war. Er wird vielleicht sogar unsere Hunde abknallen, auf die
wir nicht genügend aufgepasst hatten. Irgendeine grosse Strafe würden wir
bestimmt bekommen.
Das Auto stand wirklich noch vor der Wirtschaft, der Wildhüter sass schon
hinter dem Steuer. Als er uns alle: meinen Mann mit dem Gemslein im Arm,
mich und die drei Hunde, angelaufen sah, stieg er aus seinem Auto und sagte:
"was haben Sie denn da? Na, so ein dummes Viehlein, noch so klein und
alleine, fort von der Herde. So was kann ja nicht gut ausgehen. Schauen
Sie: das Kitz hat einen Schock, das kommt nicht mehr auf die Beine. Das
werden wir dann schnell machen. Gehen Sie solang in die Wirtschaft und
trinken Sie was."
Alle fünf liessen wir den Kopf hängen, als wir den kleinen, dunklen
Wirtschaftssaal betraten. Wir standen noch, schuldbewusst, an der Türe und
schauten uns nach einem freien Tisch um. Wir hatten noch kein Wort
gesprochen, als wir einen Knall, einen Schuss hörten. Natürlich wussten
wir, was geschehen war. Ich hoffte immer noch auf ein Wunder, als die Tür
aufging. Der Wildhüter kam herein. Er trug in der linken Hand das tote
Gemslein an seinen vier Füssen, mit der rechten tippte er leicht an seinen
Jägerhut und sagte:
"das wärs dann. Einen schönen Abend wünsch ich Euch allen noch!"
Und fort war er. Wir hörten den Motor seines Autos anspringen und das Auto
abfahren.
"War das alles? kein "Donnerwetter"? keine Polizei? keine Drohung?" fragte
ich mich.Und einen "schönen Abend" wünschte man uns noch?
Gisela Gisin
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